Rechtserneuerung

Der NS-Begriff „Rechtserneuerung“ steht für die Gesamtheit der Ideen und Maßnahmen zur Umformung des deutschen Rechts nach nationalsozialistischen Grundsätzen, insbesondere völkischen, rassischen, antidemokratischen und antiliberalen Vorstellungen. Im Privatrecht wurde beispielsweise die Abkehr von der liberalen Grundhaltung des BGB von 1900 und die Zurückdrängung der als „undeutsch“ bzw. „artfremd“ und „materialistisch“ bezeichneten Einflüsse römisch-rechtlicher Institute und Grundsätze propagiert (25-Punkte-Programm der NSDAP vom 24. Februar 1920, Nr. 19). Verwirklicht werden sollte dies u.a. im (unvollendet gebliebenen) Volksgesetzbuch, an dem in der Akademie für Deutsches Recht über Jahre gearbeitet wurde.

Allerdings lag der NS-Rechtserneuerung kein einheitliches und methodisch geschlossenes Theoriegerüst zugrunde. Vielmehr gingen die Ansichten über Quellen, Reichweite und Methodik der Rechtserneuerung weit auseinander. Die neuere Forschung beschreibt einen regelrechten Wettstreit um Auslegungsmethoden und Denkmuster. Hierbei wurde auch bereits Vorhandenes aufgegriffen und in radikalisierter Form weiterentwickelt, wie beispielsweise in den Diskursen zur Rassenhygiene. Da insgesamt die Reform bestehender und der Erlass neuer Gesetze im Verhältnis zu den ambitioniert formulierten Zielen eher langsam voranschritten, kam der Rechtsprechung eine wesentliche Bedeutung bei der praktischen Umsetzung der NS-Rechtserneuerung zu, indem sie die „nationalsozialistische Weltanschauung“ zum zentralen Wertmaßstab bei der Auslegung der „alten Gesetze“ erhob.

Ein Anknüpfen an Ideen der NS-Rechtserneuerung findet sich auch in Beiträgen ungarischer Juristen, die vor allem in der Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht veröffentlicht wurden. Dabei wurde der Startpunkt der „ungarischen Rechterneuerung“ vielfach bereits auf das Jahr 1920, den Beginn der sog. Horthy-Ära (1920–1944), datiert. Die Autoren verwiesen dabei einerseits auf (vermeintliche) Kontinuitäten in der ungarischen Rechtsentwicklung seit 1920 und andererseits auf Parallelen zum NS-Recht. So wurde in den Publikationen zum ungarischen Recht die Abkehr vonfremdrechtlichen Einflüssen“ (römisches Recht und liberales Gedankengut) und von abstrakten Rechtsregeln betont sowie eine „lebensnahe“ Ausgestaltung des Rechts gefordert. Das Recht sollte Teil der „konkreten Lebensordnung“ sein und sich an der „völkisch-rassischen“ Gemeinschaft orientieren. Exemplarisch hierfür sind die Ausführungen des ungarischen Justizministers Laszló von Radocsay in der 1942 erschienenen Publikation „Die Rechtserneuerung in Ungarn“, in der er allerdings auch Unterschiede zur „deutschen Rechtserneuerung“ benennt:

Quelle: László von Radocsay, Die Rechtserneuerung in Ungarn, 1942, S. 4

Quellen

István Arató, Volksnahes und volksfremdes Recht, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1943, S. 145–153

Rudolf Bechert, Deutsche Rechtsentwicklung und Rechtserneuerung, in: Hans Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung, 1935, S. 71–84

Slavomir Condanari-Michler, Der Einfluß des deutschen Rechts auf die ungarische Rechtsentwicklung, ZAkDR 1938, S. 49–53

Roland Freisler, Grundlegende Denkformen des Rechts im Wandel unserer Rechtserneuerung, 1941

Josef von Hegedüs, Über den Geist des ungarischen Privatrechts, ZAkDR 1942, S. 9 f., 134–136

Karl Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, 1934

Karl Larenz, Über Gegenstand und Methode des völkischen Rechtsdenkens, 1938

Walther Merk, Deutsche Rechtserneuerung, Süddeutsche Monatshefte 1934, S. 258–302

Andreas Nizsalovszky, Neue ungarische Rechtsgedanken und das ungarische Privatrecht, Sonderheft „Ausland“, ZAkDR 1935, S. 66–71

N. N., Rechtswissenschaftlicher Gedankenaustausch zwischen Ungarn und Deutschland, ZAkDR 1938, S. 461 f.

László von Radocsay, Die Rechtserneuerung in Ungarn, Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Recht des Auslands 1, 1942

„Rechtserneuerung“, in: Der Neue Brockhaus, Dritter Band L–R, 1939, S. 670 (Scan)

„Rechtsreform (Rechtserneuerung)“, in: Meyers Lexikon, Achte Auflage, Neunter Band, 1942, Sp. 138 f.

Coloman von Szakáts, Die Grundprinzipien der neueren ungarischen Rechtschaffung, ZAkDR 1936, S. 491–498

Volksgesetzbuch – Grundregeln und Buch I – Entwurf und Erläuterungen, vorgelegt von Justus Wilhelm Hedemann, Heinrich Lehmann und Wolfgang Siebert, 1942


Forschungsliteratur (Auswahl)

Thomas Gutmann, Ideologie der Gemeinschaft und die Abschaffung des subjektiven Rechts – Recht und Rechtswissenschaft im Nationalsozialismus, 2018

Hubert Rottleuthner, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie im Nationalsozialismus, in: Ralf Dreier / Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, 1989, S. 295–322

Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 8. Aufl. 2017, S. 117 ff.

Bernd Rüthers, Methodenerfahrungen der Rechtswissenschaft im Nationalsozialismus, Wissenschaftskolleg Berlin, Jahrbuch 1986/87, S. 265–267

Michael Stolleis, Gemeinschaft und Volksgemeinschaft. Zur juristischen Terminologie im Dritten Reich, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1972, S. 16–38