Volksgruppenrecht

Der deutsch-ungarische Rechtstransfer in der NS-Zeit verlief auch im Volksgruppen- bzw. Minderheitenrecht primär vom „Dritten Reich“ in Richtung Ungarn. Im Unterschied zu anderen Rechtsgebieten wurden allerdings keine Inhalte aus der NS-Gesetzgebung übertragen. Vielmehr waren es volksgruppenrechtliche Konzepte aus der deutschen Rechtswissenschaft, die zugunsten der deutschen Minderheit in Ungarn Eingang in die ungarische Rechtsetzung fanden. Zudem ging es bei diesem Transfervorgang gerade nicht um eine Entrechtung, sondern eine Privilegierung der deutschen Minderheit in Ungarn. Insofern stellt die Aufnahme des Volksgruppenrechts eine Erweiterung der ursprünglich auf Konzepte und Praktiken der Entrechtung angelegten Forschungskooperation dar.

Als Transferinhalte sind insbesondere die kollektiven Rechte der Volksgruppe der Ungarndeutschen auf eine uneingeschränkte Bewahrung ihres Volkstums, auf Autonomie und Mitentscheidung über die individuelle Volksgruppenzugehörigkeit sowie die völkisch begründete Ablehnung von Zwangsassimilation hervorzuheben. Auch eine korporative Volksgruppenorganisation mitsamt einem – nach dem Führerprinzip ausgerichteten – Volksgruppenführer sowie das Kollektivrecht auf „konnationale“ (d.h. im Rahmen der gesamtdeutschen Volksgemeinschaft zum Deutschen Reich als „Mutterland“ unterhaltene) Beziehungen sind zu nennen.

Das NS-Volksgruppenrecht begriff sich aufgrund der beschriebenen Inhalte als Gegenmodell zum völkerrechtlichen Minderheitenrecht, das die Siegermächte des Ersten Weltkriegs unter der Ägide des Völkerbunds eingerichtet hatten. Als wichtigstes Beispiel für den Einfluss des NS-Regimes ist das in Wien abgeschlossene sog. deutsch-ungarische Volksgruppenabkommen vom 30. August 1940 zu nennen. Es war das Resultat eines tatkräftigen Engagements von NS-Volksgruppenrechtlern sowie reichsdeutscher Stellen, die – wie auch in weiteren Nachbarstaaten – mittels außenpolitischen Drucks rechtliche Privilegierungen zugunsten der deutschen Volksgruppe aushandelten.

                                                                                                                                                                                             Timo Albrecht (Stand: März 2023)

Forschungsliteratur (Auswahl)

Timo Marcel Albrecht, Die rechtliche Lage der deutschen Minderheit im Ungarn der Horthy-Ära, Diké 2019, S. 19–36 

Timo Marcel Albrecht, Das deutsch-ungarische Volksgruppenabkommen von 1940 als Ausdruck des NS-Volksgruppenrechts, Diké 2021, S. 67–95 

Heinrich Bodensieck, Volksgruppenrecht und nationalsozialistische Außenpolitik nach dem Münchener Abkommen 1938, Zeitschrift für Ostforschung 1958, S. 502–518

Martin Broszat, Deutschland – Ungarn – Rumänien: Entwicklung und Grundfaktoren nationalsozialistischer Hegemonial- und Bündnispolitik 1938–1941, Historische Zeitschrift 1968, S. 45–96

Joachim Kühl, Das ungarländische Deutschtum zwischen Horthy und Hitler. Außenpolitik und Volksgruppenfrage 1919–1944, Südostdeutsche Heimatblätter 1955, S. 117–147

Norbert Spannenberger, Der Volksbund der Deutschen in Ungarn 1938–1944 unter Horthy und Hitler, 2. Auflage 2005

John C. Swanson, Nation, Volk, Minderheit, Volksgruppe: Die deutsche Minderheit in Ungarn in den Begriffskämpfen der Zwischenkriegsära, Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 2006, S. 526–547 

Loránt Tilkovszky, Ungarn und die deutsche „Volksgruppenpolitik“ 1938–1945, 1981

Loránt Tilkovszky, Teufelskreis. Die Minderheitenfrage in den deutsch-ungarischen Beziehungen 1933–1938, 1989

Zsolt Vitári, Minderheitenrecht in Ungarn in der Zwischenkriegszeit und dessen Anwendung im Alltag am Beispiel der Ungarndeutschen, Diké 2019, S. 118–144 

Quellen

Deutsch-ungarisches Protokoll vom 30. August 1940 betreffend die Stellung der deutschen Volksgruppe in Ungarn 

Ferenc Faluhelyi, Ius civium in Hungaria habitantium nationum. Collecta legum et edictorum hungariae in lingua germanica conscripta, 1946 (ins Deutsche übersetzte Sammlung ungarischer Minderheitengesetze und -verordnungen bis 1943)

Richard Grotmann, Die Rechtslage der Deutschen Volksgruppe in Ungarn, 1940 (zugleich jur. Diss. Gießen, 1939)

Karl Gottfried Hugelmann, Die Vereinbarungen über die deutschen Volksgruppen in Ungarn und Rumänien in geschichtlicher Beleuchtung, Zeitschrift für osteuropäisches Recht 1941/42, S. 235–277

Friedrich Korkisch, Die rumänischen Gebietsabtretungen an Ungarn und Bulgarien und die Regelung damit zusammenhängender Volkstumsfragen, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1940, S. 707-767 

Imre Mikó, Nemzetiségi jog és nemzetiségi politika, 1944 

Hermann Raschhofer, Entwicklung und Funktion des neuen Volksgruppenrechts, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1942/43, S. 418–444 

Werner Schubert (Hrsg.), Akademie für Deutsches Recht 1933–1945. Protokolle der Ausschüsse. Bd. XIV. Ausschüsse für Völkerrecht und für Nationalitätenrecht (1934–1942), 2002, S. 428 ff., 440 ff., 505 ff. (zur Lage der deutschen Volksgruppe in Ungarn)

Stefan Stelzer, Ungarns Verwaltungsentwicklung seit dem Abschluß des Wiener deutsch-ungarischen Volksgruppenabkommens, Nationalsozialistische Monatshefte 1941, S. 348–355

Weiterführende Links

Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa: